Presse-Archiv 2002

Wolfgang Paul war 30 Jahre lang in der Erziehungsberatung tätig

"Kinder dürfen auch mal Mist machen"

04.07.2002

Darmstadt-Dieburg - Als einen Pionier der Erziehungsberatung in Hessenbezeichnet Erste Kreisbeigeordnete Celine Fries den Diplom Psychologen Wolfgang Paul, der der Beratungsstelle in Groß-Umstadt vorsteht, aus Altersteilzeitgründen aber nicht mehr an seinem Schreibtisch sitzt. Fast 30 Jahre lang widmete er sich Eltern und deren Kinder, sorgte dafür, dass die Chemie in vielen Familien wieder stimmte. Wesentlich dazu beigetragen hat er, dass die Erziehungsberatung in Hessen flächendeckend aufgebaut wurde und an Profil gewann. In Groß-Umstadt, wo er die letzten zweieinhalb Jahre tätig war, führte er neue Arbeitsformen ein, um schnell präsent zu sein, bot offene Sprechstunden und Telefonberatung an, um lange Wartezeiten zu vermeiden, forcierte die Zusammenarbeit mit Kindertagesstätten und Schulen. Als er sich 1973, als junger Mensch, beim damaligen Zweckverband Starkenburg um die Stelle eines Erziehungsberaters bewarb, setzte er sich eine Brille auf, um älter und seriöser zu wirken. Heute, da der Landkreis die Beratung seit 1999 in eigener Regie durchführt, braucht er keine Sehhilfe, um den Durch und Überblick zu bewahren. Kompetenz und Erfahrung zeichnen den alten Fahrensmann aus.

In der Entwicklung der Erziehungsberatung spiegelt sich auch die Entwicklung der Gesellschaft wider, bilanziert Wolfgang Paul seine Tätigkeit über drei Jahrzehnte hinweg. Geändert habe sich die Einstellung zum Kind, Anfang der 70er Jahre habe es in den Familien eine andere Rollenverteilung wie heute gegeben. Der Mann verdiente das Geld, die Frau war zuhause, das Kind wurde beschützt und bewahrt, die Eltern, hauptsächlich die Mutter, hatten die Verantwortung für das Kleine. Heutzutage werde von den Kindern jedoch eine größere Selbständigkeit erwartet, der Einfluss beziehungsweise die Erziehungsleistungen der Eltern werden sehr oft zurück genommen oder gar nichtausgeübt. Dass man im neuen Jahrtausend sogar schon vom "kompetenten Baby" redet, nimmt Paul zwar hin, aber es schmeckt ihm nicht. Ein Kind brauche Stabilität und Geborgenheit, ein festes Gerüst, an das es sich klammern könne. Kinder seien nicht mehr so lange Kind wie früher, was Zwölfjährige heute denken, sei damals undenkbar gewesen. Computer, neue Medien und anders gestaltete Freizeitangebote haben die kindliche Landschaft verändert.

Gewandelt haben sich auch die Beratungsthemen. Vor dreißig Jahren, als Paul seine Gespräche in Dieburg noch im Zimmer der Schulzahnärztin durchführte, beherrschten Themen wie Nägel kauen, Einnässen oder Selbstbefriedigung die Beratungstermine, Gewalt oder Aggressivität waren kein Gesprächsgrund,sexueller Missbrauch war tabuisiert. Schmerzhaft berührt hat Wolfgang Paul, wozu Mann und Frau untereinander und gegenüber ihrem Kind fähig sind. Das Kind werde häufig instrumentalisiert, um dem anderen eins auszuwischen. Dieser Prozess habe in den 80er Jahren begonnen, vorher seien Konflikte zwischen den Ehepartnern bei der Erziehungsberatung in dieser Form kein Thema gewesen. Auch wenn er nicht mehr an seinem Schreibtisch sitzt, gibt Paul Eheleuten, die sich trennen wollen, quasi aus der Ferne den Rat, sich nicht gegenseitig zu verteufeln, sondern die eigenen Stärken und Kompetenzen zu nutzen. Sich Vorwürfe zu machen, bringe nichts, viel mehr sollten die Potenziale gefördert werden, auch dem Kind gegenüber. Außerdem müssen, so Paul, Eltern begreifen, dass Kinder keine  last sind. Zwar würde ein Kind häufig als anstrengend empfunden, weil es ständig lernen müsse, doch sei es mit Sicherheit der falsche Weg, ihm ständig zu vermitteln, dass es eine Belastung sei. Immer wieder begegnet ist Wolfgang Paul auch dem Phänomen, dass die Zuwendung zum Kind zu groß ist. 95 Prozent der Kinder seien auf einem guten Weg, doch viele Eltern hätten Angst, dass der Sprössling auf die schiefe Bahn gerate. "Genau darin liegt die eigentliche Schieflage", so Paul und fügt hinzu: "Kinder dürfen auch mal Mist machen".

pt

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