Presse-Archiv 2003
Junger Erzhäuser hat von der Eingliederungshilfe des Kreises profitiert
Integration auf geschienten Beinen
31.07.2003
Darmstadt-Dieburg - Bis zu seinem siebten Lebensjahr ist der Erzhäuser Martin Schiller - wie er sagt - "krabbelnd durch die Gegend gewetzt". Seinen Rollator, eine mechanische Gehhilfe, hat er mit 16 in die Ecke gestellt, weil`s ihn "öfters hinbrezelte". Das Gefühl der völligen Unabhängigkeit lernte er erstmals kennen, nachdem er den Führerschein gemacht hatte und im eigenen Auto fahren konnte. Martin Schiller ist von Geburt an spastisch gelähmt, das linke Bein und der linke Arm sind nur sehr eingeschränkt zu gebrauchen, beide Beine werden mit Schienen gestützt. Trotzdem ist der
20-Jährige ein Energiebündel und hat mit großer Willenskraft und ungebremster Motivation - fast - alle Stolpersteine aus dem Weg geräumt. Im Frühjahr diesen Jahres legte er mit 2,4 einen beachtlichen Notendurch-schnitt beim Abitur hin, genoss den Abi-Ball mit seiner blinden Freundin Petrine und bereitet sich nun auf sein Studium der Medieninformatik an der behindertengerechten Fachhochschule Heidelberg vor. Ein mehrmonatiges Praktikum beim Sozialamt des Kreises überbrückt die Zeit bis zum Studienbeginn in diesem Herbst. Dass der agile Computerfreak seiner Schulzeit ausgerechnet Verwaltungstätigkeiten beim Landkreis anfügt, hat er den zahlreichen Firmen zu "verdanken", die seine Bewerbung ablehnten und damit wohl auch seine Cleverness und Begabung verkannten. "Der Junge ist absolut fit", attestiert ihm seine Interimschefin Roswitha Schnarr, die den Praktikumswunsch prompt erfüllte, weil sie Martin Schiller schon lange kennt. Schließlich war er 1990, nachdem der Landeswohlfahrtsverband die Finanzierung der Integration auf die Kreise und kreisfreien Städte übertragen hatte, der Erste, der landkreisweit in den Genuss eines so genannten Schulintegrationshelfers im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen kam. Knapp 83 000 Euro investierte der Kreis bis heute in die Unterstützung für ihn. Zivildienstleistende halfen dem Behinderten vormittags über alltägliche Hindernisse hinweg, brachten ihn zur Schule und holten ihn wieder ab. Für den Rest des Tages sprang die Mutter ein, die ihren Beruf als Lehrerin aufgab. Aus dem einstigen Einzelfall und Vorreiter Martin Schiller ist heute Alltag geworden. Inzwischen sind es 24 Kinder in Regelschulen und 42 Jugendliche in Schulen für praktisch Bildbare geworden, für die der Landkreis jährlich rund 250 000 Euro ausgibt. Es handelt sich hierbei um körperlich beziehungsweise geistig und mehrfach Behinderte. Hinzu kommen 162 Kids in Kindergärten oder Tagesstätten, deren Plätze in diesem Jahr rund 3,6 Millionen Euro kosten. Nicht gerechnet sind die zahlreichen und kontinuierlichen Umbauten an kreiseigenen Gebäuden wie Rampen oder Haltegriffe auf Toiletten, die für mehr Barrierefreiheit sorgen.
Während seiner Schulzeit hat Martin Schiller zwiespältige Erfahrungen mit seiner Behinderung gemacht. Während er im Kindergarten und in der Grundschule in Erzhausen keine Probleme hatte, übte sich, abgesehen von zwei oder drei Freunden, der Großteil seiner Klassenkameraden in der Mittelstufe an der Weiterstädter Hessenwaldschule in Ablehnung, er rutschte in eine Außenseiterrolle. Erst in der Oberstufe, an der Berthold-Brecht-Schule in Darmstadt, bauten sich wieder mehrere Freundschaften und Akzeptanz auf. Martin Schiller ist aufgrund seiner besonderen Lebenslage nie in ein tiefes seelisches Loch gefallen. Sicherlich gab es Situationen, wo "man die Schnauze voll hatte vom Handicap", doch er betrachtete die Hemmnisse nicht als entmutigend, eher als motivierend. Man müsse trickreich, erfinderisch und willensstark sein, beschreibt er seinen bisherigen Lebensweg, der nun in die komplette Selbständigkeit mündet. In Heidelberg wird er ein eigenes Zimmer beziehen, "die Zeit, wo ich der Mutter die geschienten Beine unter den Tisch stelle, ist vorbei". Vermissen wird er indes nicht nur den gedeckten Tisch zu Hause, sondern auch "seine" vom Landkreis finanzierten Zivis: "Ohne die hätte ich das alles nicht geschafft". Einen bleibenden Eindruck hat er sich beim Kreissozialamt verschafft. Er digitalisierte in kürzester Zeit die bisher handschriftlich gefertigten Listen über Fahrdienstleistungen für Behinderte und sorgte so für eine straffere Bearbeitung.
pt