Presse-Archiv 2008
Ein ganz persönlicher Mauer-Fall
12.08.2009
Darmstadt-Dieburg – Felicia Turek ist Referentin im Büro des Ersten Kreisbeigeordneten Klaus Peter Schellhaas und hat in diesem Jahr eine Veranstaltungsreihe aus Anlass der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls organisiert, der sich in diesem Jahr zum zwanzigsten Mal jährt. Sie ist in Leipzig aufgewachsen, hat die Fachhochschule für Verwaltung besucht und arbeitet seit 1997 beim Landkreis.
„Was aus mir geworden wäre, wenn die Mauer nicht gefallen wäre, ist schwierig zu sagen. Wahrscheinlich hätte ich früh geheiratet und hätte Kinder – schon allein, um an eine eigene Wohnung heran zu kommen. Mein langjähriger Berufswunsch war Lehrerin, aber als Pfarrerstochter war das nahezu unmöglich. Als Sechsjährige wollte ich die Eisdiele von gegenüber übernehmen – wegen des Naschvergnügens. Das Interesse an Verwaltung bekam ich irgendwie auch in die Wiege gelegt. Ab meinem fünften Lebensjahr saß ich regelmäßig im Pfarrbüro und half der Pfarrsekretärin.
Meine Kindheit war sehr behütet, weil meine Eltern mich von vielem abgeschirmt haben. Erst viel später hat meine Mutter mir erzählt, welche Ängste sie durchlebt hat, wenn wieder ein Mitarbeiter der Staatssicherheit vor der Tür stand. Mein Vater besaß eine Druckmatritze, mit der er für den Gottesdienst Liedblätter vervielfältigte. Damit hat er dann auch Flugblätter für die Bürgerrechtsbewegung kopiert, das war sehr gefährlich. Er hatte eine nicht unwesentliche Rolle in der Friedlichen Revolution, auch wenn er dies immer sehr bescheiden abtut. Mitglied bei den Pionieren war ich trotz meines christlichen Hintergrunds. Da hatte sich meine Mutter durchgesetzt, um zu vermeiden, dass ich Nachteile in der Schule und bei den anderen Kindern habe. Benachteiligung habe ich verspürt, als es um einen Schüleraustausch mit der damaligen Sowjetunion ging. Von der Schulleitung wurde mir mitgeteilt, dass ich nicht daran teilnehmen darf, weil man russischen Kindern nicht zumuten konnte, in einem Pfarrhaus zu Gast zu sein. Man hatte Angst, die russischen Kinder könnten missioniert werden. Das hat mich sehr verletzt.
Bei dem Ausspruch „Wir sind das Volk“ sehe ich meine Eltern und die vielen anderen Menschen vor mir, die auf dem Augustusplatz in Leipzig demonstriert haben, der damals Karl-Marx-Platz hieß. Sie trugen Transparente und Kerzen und riefen ihre Forderungen. Ich selbst habe die Abende am Telefon verbracht und Anfragen von Journalisten beantwortet, die über den aktuellen Stand informiert werden wollten. Das war eine ergreifende Zeit und ist mir wie ins Gedächtnis gebrannt, da kommt eine Gänsehaut von ganz allein.
Als die Mauer fiel, war ich vierzehn.. Ich kam von meinen Freunden nach Hause. Mein Vater saß vor dem Fernseher und rief mir zu „die Mauer ist gefallen!“ und ich antwortete „aha, o.k. und was heißt das jetzt?“. Ich stellte mir erst mal Verwandtschaftsbesuche in Westdeutschland vor. Aber die gesamte Dimension dieser Aussage konnte ich zunächst gar nicht erfassen. Wenige Tage später fuhren wir nach Westberlin. Als wir die Grenze überschritten, hat meine Mutter einen Freudenschrei ausgestoßen und fing an zu tanzen. Für sie war es eine Befreiung. Von dem Begrüßungsgeld haben wir ganz klischeehaft als erstes ein Kilo Bananen gekauft, die ich noch heute genau vor mir sehe. Dabei ging es nicht so sehr um die Bananen an sich. Vielmehr standen sie für das Ende von Schlangestehen und Mangelwirtschaft, von Bevormundung und all den anderen Tyranneien.
Inzwischen bin ich länger Bundesbürger als ich DDR-Bürger war, aber meine ostzonale Verbundenheit bleibt. Regelmäßig fahre ich in die Heimat. Rotkäppchensekt und auch Imnu, den ostdeutschen Caro-Kaffee, habe ich immer zu Hause. Ansonsten gibt es bei mir Ampelmännchen in allen Formen und eine riesige Leipzig-Skyline über meinem Bett.
Die Veranstaltungsreihe zum Mauerfall habe ich organisiert, um daran zu erinnern, was die DDR war und wie die Friedliche Revolution verlaufen ist, die zum Mauerfall führte. Ein weiser Mann hat einmal gesagt: Nur wer weiß, woher er kommt, weiß auch, wohin er geht.
Die Veranstaltungen wurden zum Teil gut besucht, zum anderen Teil habe ich mehr Resonanz erhofft. Für viele, die im Westen aufgewachsen sind, ist das, was sich hinter der Mauer abspielte, räumlich und emotional vielleicht zu weit weg. Von Ostlern und Westlern wünsche ich mir mehr Neugier und Interesse aneinander. In Gesprächen lassen sich sicher gegenseitig einige Wissenslücken schließen. Mein persönlicher Mauer-Fall wird mich mein Leben lang begleiten. Immer wieder werde ich daran erinnert, und diese Erinnerung ist sehr kostbar.
Die nächsten Veranstaltungen
24. August bis 4. Oktober, Ausstellung im Foyer, Kreishaus Darmstadt-Kranichstein, Jägertorstraße 2007: 20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit.
15. September 2009, 19.30 Uhr, Podiumsdiskussion im Kreistagssitzungssaal: Die Journalisten Roland Jahn und Peter Pragal berichten, wie sie aus ihrer jeweiligen Ost- bzw. West-Perspektive die Friedliche Revolution und den Mauerfall erlebten.