Presse-Archiv 2008

Mit der Nachfrage steigt das Angebot - Harter Weg zur Zulassu

Heilpraktiker im Höhenflug

23.06.2008

Darmstadt-Dieburg - Wachsendes Interesse an alternativen Behandlungsformen lässt die Heilpraktikerbranche boomen. Dieser Trend macht sich auch beim Gesundheitsamt für den Landkreis Darmstadt-Dieburg und die Stadt Darmstadt deutlich bemerkbar. Seit 2001 beantragen jedes Jahr regelmäßig fünfzig bis 75 Interessenten die Zulassung; in den Jahren davor waren es stets wesentlich weniger. “Die Anforderungen sind enorm hoch, auch wenn verbindliche Ausbildungsrichtlinien fehlen und außer dem Hauptschulabschluss keine Zeugnisse oder Examen nachgewiesen werden müssen“, betont Amtsleiterin Dr. Iris Hofstetter. Dass Idealismus allein nicht reicht, sondern nur mit solidem Fachwissen Hand an Patienten gelegt werden darf, verdeutlicht die hohe Durchfallquote beim amtsärztlichen Test: Im Durchschnitt schafft gerade jeder zweite Kandidat die Prüfung.

Es sind vor allem Menschen mittleren Alters - zwischen 30 und 50 Jahren -, hauptsächlich Frauen und nur vereinzelt Männer, die eine Betätigung als Heilpraktiker anstreben. Viele orientieren sich neu nach einer Familienpause, weil sie der bisherige Job nicht mehr zufrieden stellt oder weil die Naturheilkunde sie nach positiven Erfahrungen bei einer eigenen Erkrankung fasziniert und begeistert. Übereinstimmend beschreiben die “Nachwuchskräfte” den ganzheitlichen Ansatz, Körper, Geist und Seele als Einheit zu betrachten, als ihre Leitlinie. Sie treten dafür ein, aus traditionellen und neuen Quellen von Volksmedizin und Naturheilkunde zu schöpfen, um körpereigene Selbstheilungs- und Widerstandskräfte zu aktivieren - als Ergänzung, bisweilen auch als Alternative zur klassischen Schulmedizin. Unabdingbar für eine verantwortungsvolle Diagnose und Behandlung sei dabei jedoch, die Grenzen vermeintlich sanfter Methoden zu erkennen, unterstreicht Dr. Hofstetter.

Nicht wenige Heilpraktiker-Bewerber kommen aus - im weitesten Sinne - medizinischen Berufen wie Krankenschwester, Arzthelferin oder Physiotherapeutin. Gleichwohl satteln auch etliche Fachfremde um von eher technokratischen Arbeitsfeldern, etwa Informatik, Verwaltung oder Betriebswirtschaft. Als Motivation geben die meisten an, “mehr mit Menschen” zu tun haben zu wollen. Im Teilbereich “Heilpraktiker für Psychotherapie” sind Bewerber mit akademischem Abschluss verhältnismäßig stark vertreten.

Nur in Deutschland und in der Schweiz dürfen außer approbierten Ärzten auch Heilpraktiker Heilkunde ausüben; in allen anderen europäischen Ländern gilt das Ärztemonopol. Nach Schätzung der Interessensverbände sind in der Bundesrepublik rund 20.000 Heilpraktiker tätig, in Hessen annähernd 1800. Heilkunde ist definiert als “berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen”. Das Heilpraktikergesetz von 1939 regelt klar, was Heilpraktiker nicht dürfen: Geburtshilfe, Geschlechts- und meldepflichtige Infektionskrankheiten, Betäubungsmittel und verschreibungspflichtige Arzneien fallen ausschließlich in die Kompetenz von Ärzten.

Wer Heilpraktiker werden will, braucht keine medizinische Ausbildung und kann sich das erforderliche Wissen im Prinzip autodidaktisch aneignen. Das ist jedoch eher die Ausnahme. Ziemlich alle Kandidaten besuchen eine der zahlreichen, recht teuren Privatakademien. Ist der Grundstock geschaffen, führt der Weg zum Ordnungsamt des Kreises beziehungsweise der Stadt, wo die “Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde” beantragt werden muss. Nach formaler Überprüfung - verlangt werden unter anderem Lebenslauf, ärztliches Attest und amtliches Führungszeugnis - kommt die nächste Station und höchste Hürde: die amtsärztliche Überprüfung, dass, wie es wörtlich im Gesetz heißt, “die Antrag stellende Person nicht zu einer Gefahr für die Volksgesundheit wird”.

Abgefragt werden dabei Kenntnisse und Fähigkeiten unter anderem im Erkennen unterschiedlichster Krankheitsbilder, Hygiene, Sterilisation und Desinfektion, Notfallmaßnahmen und gesetzliche Regelungen insbesondere im Hinblick darauf, wann ein Arzt einzuschalten ist. Die Prüfungsbögen sind landesweit einheitlich, die Prüfungstermine in allen 24 hessischen Gesundheitsämtern zeitgleich immer am dritten Mittwoch im März und am zweiten Mittwoch im Oktober. Durch 60 Fragen haben sich die Bewerber innerhalb von zwei Stunden zu kämpfen. 75 Prozent richtige Antworten heißt bestanden. Anschließend ist noch ein mündlicher Teil zu absolvieren, bei dem Anamnese, Untersuchung, Diagnostik und Injektionstechniken im Mittelpunkt stehen. Neben Gesundheitsamtsleiterin Dr. Hofstetter fühlt als Beisitzerin eine Heilpraktikerin den Nachwuchskräften gewissermaßen auf den Zahn. Wer nur im Teilgebiet Psychotherapie praktizieren möchte und dann aber auch nur die entsprechend eingeschränkte Berufsbezeichnung führen darf, sieht sich mit einem anderen, nicht minder schwierigen Katalog von 28 Fragen und einem Zeitlimit von 55 Minuten konfrontiert. Bei der Mündlichen gehört dem Prüfungsgremium dann als dritter Experte ein Arzt für Psychiatrie/Psychotherapie an.

In den zurückliegenden sieben Jahren meisterten jeweils zwischen 44 und 64 Prozent der Kandidaten die adrenalinträchtige Zulassungsprozedur mit Erfolg. Trotzpflaster für jene, die durchrasseln: Man kann die Prüfung beliebig oft wiederholen. Rekordverdächtige zehn Anläufe, so erinnert sich Dr. Hofstetter, benötigte der bisher hartnäckigste Bewerber.

Der Start in die neue Karriere verlangt einige Investitionen: Neben Fachliteratur- und Kurskosten sind Verwaltungsgebühren in Höhe von einheitlich 220 Euro für das Ordnungsamt zu berappen sowie 198 Euro für die schriftliche und 172 bzw. 232 Euro für die mündliche Überprüfung im Gesundheitsamt. Absolventen erhalten zu guter Letzt von Kreis oder Stadt eine urkundliche Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde - den Schlüssel zur eigenen Praxis. Wo die frischgebackenen Heilpraktiker ihre Schwerpunkte setzen, ob sie ihr Repertoire mit Zusatzausbildungen beispielsweise in Akupunktur, Chiropraktik, Kinesiologie oder Reflexzonentherapie auffächern, ist dann ausschließlich ihre eigene Angelegenheit.

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