Presse-Archiv 2023
Neues Modell der Eingliederungshilfe
Schulbegleitungen sollen allen Kindern an der Carl-Ulrich-Schule helfen
27.11.2024
Schulbegleitungen wie Katrin Jungermann haben an der Carl-Ulrich-Schule in Weiterstadt nicht mehr nur ein Kind im Blick, sondern sind potenziell für alle da. Ein Modell, das Schule machen soll. Foto: Thomas Bach
Darmstadt-Dieburg. Morgens um 10.15 Uhr, Carl-Ulrich-Schule Weiterstadt: Christine Betz unterrichtet die Klasse 1c, animiert die Kinder vor der Klasse stehend zum Mitmachen. Die Hände gehen nach oben, einige Kinder rufen die Antwort einfach in den Klassenraum hinein. Lebendiger Unterricht. Da fällt es kaum auf, dass ein Kind zu Birgit Rothenberger kommt, die hinten im Klassenzimmer sitzt. „Kann ich auf die Toilette gehen?“, fragt das Kind fast schon schüchtern. „Natürlich“, antwortet Rothenberger. Sichtbar erleichtert tritt das Kind seinen Toilettengang an, vorbei an den anderen und der Lehrerin. Der Unterricht wurde nicht gestört. Für Schulleiter Hagen Rothkirch ist diese Situation ein gutes Beispiel für das neue Modell, das seit diesem Schuljahr als Pilotprojekt an der Weiterstädter Grundschule in den ersten Klassen gestartet ist: Statt Teilhabeassistenzen, die jeweils ein Kind betreuen, gibt es dort nun Schulbegleitungen, jeweils eine pro Klasse. Pool-Lösung statt Individualbetreuung.
Birgit Rothenberger ist seit elf Jahren Teilhabeassistentin. Sie betreute vorher jeweils ein Kind, das einen entsprechenden Bedarf hatte, auf dem Schulweg, im Unterricht, in den Pausen und auf Klassenfahrten. Und ebenso wie ihre Kolleginnen Brigitte Schildger (Klasse 1e) und Katrin Jungermann (1b) ist sie überzeugt von dem neuen Modell, das auch für sie Umstellungen mit sich bringt. „Vorher waren wir auf ein Kind fokussiert“, sagt sie, „jetzt müssen wir im Blick haben, wer uns gerade am meisten braucht.“ Sie darf nun auch dort helfen, wo sie vorher als Teilhabeassistentin eigentlich nicht hätte tätig werden dürfen. „Es gibt eine Vielzahl von Kindern, die Hilfe benötigen“, sagt Katrin Jungermann, „das fiel vorher auch auf, aber wir durften nicht helfen.“ Nun dürfen sie. Das verhindere nicht nur, dass das Kind, dem eine feste Teilhabeassistentin zugeordnet war, stigmatisiert werde, weil es eben Unterstützung benötige, sagt Schulleiter Rothkirch, das Modell habe auch entlastende Wirkung für die Lehrer. So wie bei der Frage nach dem Toilettengang in der Klasse 1c. „Die Zeiten stehen auf Veränderungen“, sagt Rothkirch, „die Bedarfe der Kinder sind vielfältiger geworden, also müssen wir die Ressource Teilhabeassistenz anders einsetzen.“ Aufgabenfelder seien etwa Autismus, soziale Störungen, eingeschränkte Lernfähigkeit, körperliche Einschränkungen, Probleme, die mit Armut einhergehen, instabile Familien. „Viele Familien fangen das nicht mehr auf“, sagt Rothkirch, „also braucht es eine Verschiebung, um diese Erziehungsarbeit leisten zu können.“ Um das neue, erweiterte Aufgabenfeld zu verdeutlichen, wurde der Name der Teilhabeassistenzen auch in Schulbegleitungen geändert an der Grundschule in Weiterstadt.
Es gibt aber auch logistische Gründe, wie Lehrerin Mareike Schulz erläutert, die mit der Projektleitung an der Carl-Ulrich-Schule betraut ist. „Die Erwachsenendichte pro Klasse war vorher sehr hoch“, sagt sie. Weil die Teilhabeassistenzen mit in den Klassenräumen saßen, eine pro Kind. Das sei schwierig für die Kinder gewesen, die Konzentration litt. Und dadurch sei es schwierig für die Lehrkräfte gewesen. Hinzu kommt der Fachkräftemangel. In Weiterstadt setzt der Träger, der Verein Flexible Jugendhilfe mit Sitz in Darmstadt, ausschließlich pädagogische Fachkräfte ein. Die gibt es nicht wie Sand am Meer. Aber die Zahl der Kinder, die Anspruch auf eine Teilhabeassistenz haben, wächst. 2020 waren es noch 504 Kinder im Landkreis, „inzwischen sind es etwa 1100“, erklärt Sozialdezernentin Christel Sprößler. Die können individuell kaum noch betreut werden. „Wir haben etwa 250 Anfragen für Teilhabeassistenzen derzeit, die wir nicht bedienen können“, erklärt Katja Jost, Bereichsleitung für den ambulanten Bereich bei der Flexiblen Jugendhilfe. Im Schnitt waren in der Carl-Ulrich-Schule in Weiterstadt 12 bis 14 Teilhabeassistenzen in den 20 Klassen vertreten. Nun sind es in der ersten Jahrgangsstufe sechs Schulbegleitungen, die sich drei Vollzeitstellen teilen, die sich aber nun um alle Schüler kümmern, nicht nur um diejenigen, die einen Anspruch darauf haben. Das Modell sieht vor, dass im Schuljahr 2025/26 nochmal 2,5 Vollzeitstellen hinzukommen, im Schuljahr 2026/27 zwei weitere und 2027/28 dann nochmal 1,5 Vollzeitstellen. Das wären dann neun Vollzeitstellen, verteilt auf mehr Köpfe, die aber dann dem gestiegenen Betreuungsbedarf aller Schüler gerecht werden. „Das bisherige System kann, so, wie es ist, auf Dauer nicht tragen“, sagt Christel Sprößler. Auch mit Blick auf die Kinder, denn beim Weiterstädter Modell falle der „Diagnosezwang“ weg: Die Schüler könnten nun auch ohne aufwändige Diagnose betreut werden, die ihnen ein Leben lang einen Stempel aufdrücke, sagt Sprößler.
Rund 30 Millionen Euro hat der Kreis 2023 für Teilhabeassistenzen ausgegeben, der steigende Bedarf könne aber durch eine Individualbetreuung nicht mehr aufgefangen werden. „Wir erhoffen uns damit natürlich auch eine Kostenersparnis, weil wir besser steuern können als bei der Individualbetreuung“, sagt Sprößler. Deshalb die Pool-Lösung in Weiterstadt. Der Gesetzgeber spreche zwar auch von „poolen“, meine damit aber nur zwei Kinder pro Teilhabeassistenz. Auf Dauer auch keine Lösung.
Die Eltern gehen den neuen Weg mit. Das Weiterstädter Modell kommt an, sagt Schulleiter Rothkirch. „Die Eltern von Schülern ohne Anspruch auf Teilhabeassistenz finden es gut, weil auch ihre Kinder betreut werden, und die Eltern von Kindern mit Anspruch finden es gut, weil ihr Kind nicht mehr stigmatisiert wird.“ Es gibt bereits andere Schulen im Kreis, die sich für das neue Modell interessieren, sagt Sprößler. Es stehe und falle aber auch mit der jeweiligen Schulleitung, die gewillt sein muss, das Modell konsequent umzusetzen. Ein Nebeneinander von Teilhabeassistenzen und Schulbegleitungen soll es auf Dauer nicht geben. „Wir betreiben damit auch massive Entbürokratisierung“, sagt die Sozialdezernentin. Und der Landkreis geht ein Stückweit über den gesetzlichen Anspruch hinaus, denn der gilt nur für Teilhabeassistenzen. „Streng genommen ist es nicht unser Auftrag, als Jugendhilfe eine inklusive Schule zu entwickeln“, sagt Christel Sprößler, „aber unser Weg ist es nicht zu klagen, sondern zu handeln.“