Presse-Archiv 2003
Von Sibirien in ein neues Leben - "Mama, du schaffst das"
Lehrling mit 37
05.08.2003
Darmstadt-Dieburg - In der Berufsschule hält man sie bisweilen für eine Lehrkraft. Tatsächlich aber ist Frieda Gebel Lehrling- und mit 37 Jahren die älteste Auszubildende unter derzeit insgesamt 763 angehenden Fachangestellten für Bürokommunikation in ganz Hessen. Der berufliche Neuanfang bei der Kreisverwaltung Darmstadt-Dieburg ist nicht der erste Sprung ins kalte Wasser, den sich die Ehefrau und Mutter von zwei zwölf und 17 Jahre alten Töchtern zutraut und zumutet. Für sie begann am 2. Mai 1994 mit dem Flug von Nowosibirsk nach Hannover ein völlig neues Leben. Damals erhielt die deutschstämmige Familie, einschließlich Schwiegermutter und fünf Geschwistern des Mannes, die lang ersehnte Genehmigung, in den Westen zu übersiedeln. Vom zentralen Aufnahmelager in Berlin über eine Zwischenstation im Hochtaunuskreis kamen die Gebels schließlich ans Ziel ihrer Wünsche, nach Südhessen. Der Kontrast zwischen den beiden Welten hätte größer kaum sein können, ein tief greifender Kulturschock. Beim ersten Besuch in einem Supermarkt etwa stand Frieda fassungslos vor den vollen Regalen. "Die Vielfalt war überwältigend und beängstigend zugleich", erzählt sie heute. In ihrem kleinen Dorf in Sibirien hatte man nach Lebensmitteln Schlange stehen müssen, "Luxusgüter" wie Schokolade waren rationiert, Kaffee gab es selten, Mandarinen nur zu Weihnachten. Um Milch, Butter und Eier zu haben, hielten sich Gebels eine Kuh und ein paar Hühner, Obst und Gemüse bauten sie selbst an, Fisch brachten gelegentlich Bekannte mit. Immer im November wurde ein Schwein geschlachtet - Vorrat für ein ganzes Jahr. Und weil es kaum Textilien zu kaufen gab, waren sie froh, dass eine Tante schneidern konnte. Urlaub konnten sie sich nicht leisten, auch kein Auto, aber immerhin, und das war schon außergewöhnlich, ein Motorrad.
Trotz der vielen irritierenden Eindrücke der ersten Monate fassten die Spätaussiedler, die auch in Sibirien innerhalb der Familie immer deutsch gesprochen hatten, schnell Fuß und machten sich daran, eine neue Existenz aufzubauen. Keinesfalls wollten sie dem Staat auf der Tasche liegen. Ehemann Georg bekam auch sofort eine Anstellung als Bus- und Lkw-Fahrer, musste nur zuvor eine Führerscheinprüfung ablegen, weil seine russische Lizenz nicht anerkannt wurde. Für Frieda allerdings, die als Grundschullehrerin gearbeitet hatte, bestand keinerlei Aussicht auf einen adäquaten Job. Also heuerte sie erstmal übergangsweise in einer Fleischfabrik an und packte Würste ab, wechselte dann in ein Altenheim und musste erkennen, "dass du ohne fundierte Ausbildung immer die Hilfskraft bleibst". Bestärkt vor allem von ihren Töchtern ("Mutti, du schaffst das!") wagte sie schließlich, sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters um einen Ausbildungsplatz zu bemühen. Sie schrieb fünf Bewerbungen - und bekam nach mit großer Aufregung überstandenem Vorstellungsgesprächen und Tests prompt eine Zusage. Frieda Gebel hat jetzt ihr erstes von drei Lehrjahren hinter sich gebracht. In ihrem Zeugnis stehen nur Zweier und Dreier; Claudia Fink, Ausbildungsleiterin im Landratsamt, ist sehr zufrieden mit der Spätstarterin. Die kommt mit dem verklausulierten Amtsdeutsch, das ihr in Fächern wie Verwaltungsrecht oder Öffentliches Finanzwesen auf Schritt und Tritt begegnet, inzwischen ebenso zurecht wie mit den viel jüngeren Azubis, die ihr im übrigen ohne jegliche Vorbehalte begegnen und sie auf Anhieb duzten. Im Landratsamt hat die aufstrebende Nachwuchskraft bereits die Poststelle, das Frauenbüro und die EDV-Zentrale kennen gelernt, zurzeit gastiert sie im Kreistagsbüro.
Ganz ohne Blessuren ging der Aufbruch in den neuen Lebensabschnitt allerdings nicht vonstatten. Beim Fußballspielen im Sportunterricht an der Berufsschule zog sich Frieda einen Kreuzbandriss am rechten Knie zu. Aber das soll der einzige Ausrutscher bleiben.
db