Presse-Archiv 2008
Von Knöllchen bis Gewerbesteuer: Immer mehr Leute zahlen erst unter Druck
Warten, bis der “Kuckuck” droht
24.10.2008
Darmstadt-Dieburg - “Mama hat gesagt, sie ist nicht da!” Um dem Pfandmeister aus dem Weg zu gehen, scheint jede Ausrede recht, und nicht immer lassen sich Tricks so leicht durchschauen. Da wird geblufft, geschimpft, geweint und auch mal ein Blumentopf geworfen. Emotionen kochen hoch, denn die gefürchteten Besucher kommen, um Geld einzutreiben.
Immer mehr Menschen geraten nicht nur bei Ausgaben für Handy, Auto und Konsumartikel in Verzug, sondern bleiben auch Gebühren, Strafen und Abgaben schuldig. Nach wiederholter erfolgloser Mahnung schalten öffentlich-rechtliche Gläubiger dann die Vollstreckungsstelle des Landkreises ein. Die Zahl der Fälle ist seit 2003 von rund 18.000 auf mehr als 21.000 im vergangenen Jahr stetig gestiegen, die Summe der Forderungen von gut acht auf knapp 9 Millionen Euro, berichtet Abteilungsleiter Herbert Glock. Wegen des hohen Arbeitsanfalls wurde sein Team vor kurzem um eine Kraft auf sechs Personen verstärkt.
Die Forderungen beziehen sich unter anderem auf Wasser-, Kanal- oder Rundfunkgebühren, Hundesteuer und Schornsteinfegerrechnung, Knollen für falsches Parken oder Rasen, sowie Beiträge zur berufsständischen Vertretung. Finanzielle Engpässe sind längst nicht mehr nur ein “Arme-Leute-Problem”. In jüngerer Zeit geraten zunehmend Personen mit mittlerem Einkommen und vermeintlich gut Situierte wie Rechtsanwälte, Architekten, Steuerberater und Ärzte wegen schlechter Geschäftslage in die Klemme. Bei etwa der Hälfte der Aufträge, die im Landratsamt eingehen, geht es um Beträge zwischen hundert und tausend Euro, jeweils ein Viertel der Fälle liegt darüber oder darunter. Den bisherigen Spitzenwert beziffert Glock mit 190.000 Euro Gewerbesteuer; die Firma stand kurz vor der Pleite.
Bevor die Zwangsvollstreckung schriftlich angedroht wird, verdeutlicht die Vollstreckungsstelle den Schuldnern den Ernst der Lage zunächst mit einem Warnbrief. Dieses durchaus unübliche Galgenfrist-Verfahren hat sich bewährt. Bei 30 bis 40 Prozent der Betroffenen schrillen dann die Alarmglocken und sie zahlen - wobei die Beträge im Unterschied zu früheren Jahren meist nicht auf einmal hingeblättert, sondern häufig in vielen kleinen Raten abgestottert werden. Klappt dies nicht, ist ein Hausbesuch unausweichlich. Oft zögernd, aber schließlich doch freiwillig öffnen sich den mit Laptop, Handy und neutralem Fahrzeug ausgestatteten Vollstreckungsbeamten die meisten Türen. Doch immer öfter - 15 Mal im vergangenen Jahr - müssen sie sich mit Amtsgerichtsbeschluss, Schlosser und teilweise Polizeischutz Zutritt verschaffen. In Wohnung, Garage und Geschäftsräumen wird dann Ausschau nach verwertbar erscheinenden Wertsachen gehalten. Transportables Pfandgut wandert in die Asservatenkammer im Kreishaus und verschiedene Lagerstätten, sperrige Güter bleiben - mit einem aufgeklebten Pfandsiegel, dem “Kuckuck”, als beschlagnahmt gekennzeichnet - zunächst vor Ort. Acht Tage haben Betroffene Zeit, ihre Sachen auszulösen. Ansonsten versucht die Behörde im Interesse von Schuldnern und Gläubigern, den höchstmöglichen Erlös zu erzielen. Von den Einnahmen werden, so weit es eben geht, Schulden und Gebühren beglichen. 2,6 Millionen Euro konnte die Vollstreckungsstelle voriges Jahr beitreiben, rund dreißig Prozent der Forderungen. Das klingt vielleicht wenig, ist aber ein verhältnismäßig gutes Ergebnis. Glock: “In vielen betroffenen Haushalten gibt es eben schlichtweg nichts mehr zu holen.”