Aktuelle Nachrichten aus Darmstadt-Dieburg
100 Jahre Jugendamt, Teil 1
Was in Darmstadt-Dieburg seit 1924 für das Recht auf Erziehung getan wird
19.11.2024
Der Startschuss: Im "Amtsverkündigungs-Blatt" des Kreises Dieburg wird 1925 die Gründung eines Jugendamtes bekannt gegeben.
Darmstadt-Dieburg. Unter allen Umständen müsse die „weitere Verwahrlosung“ der deutschen Jugend verhindert werden: Diese Begründung lieferte Reichsinnenminister Erich Koch (Deutsche Demokratische Partei) 1920, um das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz zu verteidigen. Es wurde am 14. Juni 1922 beschlossen und trat dann am 1. April 1924 in Kraft. Es markierte eine Zeitenwende, denn es sprach jedem deutschen Kind „ein Recht auf Erziehung“ zu und schuf eine einheitliche Rechtsgrundlage für die Einrichtung von Jugendämtern, die für die Kommunen verpflichtend waren. Im heutigen Landkreis Darmstadt-Dieburg wurde dies mit zwei Satzungen über die Jugendwohlfahrt umgesetzt: Im damaligen Kreis Darmstadt trat diese ebenfalls am 1. April 1924 in Kraft, im Kreis Dieburg am 24. Februar 1925. Im „Amtsverkündigungs-Blatt“ vom 13. Mai 1925 stand zu lesen: „Das Jugendamt für den Kreis Dieburg bildet eine selbständige Abteilung des Kreiswohlfahrtsamtes. Es führt die Bezeichnung Kreiswohlfahrtsamt – Jugendamt Dieburg“. Auch die Pflichtaufgaben waren aufgezählt: Jugendgerichtshilfe, Fürsorge für Kriegerwaisen und Kinder von Kriegsbeschädigten, Unterstützung zur „vorbeugenden Verwahrung“, Fürsorge für minderjährige Hilfsbedürftige, Mutter- und Säuglingsfürsorge. Bis zum heutigen, modernen Jugendamt mit all seinen Leistungen war es zwar noch ein weiter Weg, aber es fanden sich damals bereits Gedanken einer Jugendhilfe im Aufgabenportfolio.
„Dabei ist wichtig, dass das Jugendamt ist von Anfang an zweigliedrig war“, sagt Jugendamtsleiter Matthias Röder, „das heißt, Zivilgesellschaft und Staat arbeiten hier eng zusammen. „Kreiskommission“ nannte sich das entsprechende Gremium 1925. Heute heißt es Jugendhilfeausschuss. „Dort werden Vereine, Träger und Kooperationspartner wie Schule, Justiz, Gesundheitsamt sowie erfahrene Bürgerinnen und Bürger an der Steuerung der Jugendhilfe intensiv und früh beteiligt“, sagt Röder. Das sei ein sehr moderner Ansatz. Eins blieb über die Jahre aber gleich, ergänzt er: „Immer geht es um Kindeswohl und immer um begrenzte Ressourcen.“ Heute reicht das Leistungsspektrum von individueller Beratung in Erziehungsfragen über Familienbetreuung bis hin zu Unterhaltsvorschuss. Es werden auch Pflegeeltern vermittelt, straffällige Jugendliche betreut und Planungsaufgaben im Bereich Kindertagesstätten und Jugendhilfe wahrgenommen. Alles zum Wohl der Kinder und Jugendlichen.
Von 1933 bis 1945 war dies anders, als der NS-Staat die Jugendämter zur Kontrolle der Kindeserziehung missbrauchte. Die Jugendämter lenkten Familien und ihre Kinder von Geburt an politisch – etwa durch Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel. Dabei übernahm die NS-Volkswohlfahrt Aufgaben der Jugendämter, ebenso die Gesundheitsämter. Die Geschäftsführung der Jugendämter wurde 1939 Bürgermeistern und Landräten übertragen. Nach dem Krieg waren die Jugendämter kurz dem hessischen Innenministerium zugeordnet, bis sie 1953 schließlich wieder in die Selbstverwaltung der Kommunen überführt wurden. „Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz wurde wieder in Kraft gesetzt und die Einrichtung von Jugendämtern, die seitdem wieder aus der Jugendamtsverwaltung und dem Jugendhilfeausschuss bestehen, erneut vorgeschrieben“, erklärt Röder.
1961 fiel das Wort „Reich“ weg, fortan gab es das „Jugendwohlfahrtsgesetz“, das einige inhaltliche Änderungen mit sich brachte, etwa Rechtsansprüche auf Leistungen der Jugendhilfe. Zudem wurde die Position der freien Träger gestärkt. Aber, so Röder: „Bis in die 1970er-Jahre brauchten die Menschen der Bundesrepublik, um sich von der harten und oft schwarzen Pädagogik zu emanzipieren, die als langer Schatten aus der NS-Zeit in die 50er- und 60er-Jahre wirkte. Erst durch die 68er-Bewegung und das langsame Umdenken hin zu einem partnerschaftlichen und gewaltfreien Erziehungsstil wurde es möglich, auch die Nachkriegszeit kritisch in ihren Kontinuitäten aus der NS-Zeit zu betrachten.“
In den 1980er- und 1990er-Jahren wurden in vielen Bereichen Gesetze eingeführt, die das gemeinsame Sorgerecht förderten. Beide Elternteile wurden nun möglichst gleichberechtigt in die Entscheidungen über das Wohl des Kindes einbezogen. Der Weg zum modernen Jugendamt wurde konsequent weiterverfolgt: 1991 trat das Kinder- und Jugendhilfegesetz als achtes Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) in Kraft, das einen Wandlungsprozess anstieß: Das Jugendamt entwickelte sich zur dienstleistungsorientierten Fachbehörde. Neben der Schaffung einer kinderfreundlichen Umwelt und der Förderung junger Menschen rückten vor allem die Beratung und Unterstützung von Eltern bei der Erziehung in den Mittelpunkt. „Der Hilfe zur Selbsthilfe, der Beteiligung der Betroffenen an allen Entscheidungen und der Autonomie der Familie kommen ein hoher Stellenwert zu. Nur wenn Eltern Unterstützung ablehnen, ihre Erziehungsverantwortung aber nicht ausreichend wahrnehmen oder sie missbrauchen, ist das Jugendamt verpflichtet, unmittelbar den Schutz und das Kindeswohl sicherzustellen“, erklärt Röder.
Bis heute gab es noch etliche Anpassungen hin zum modernen Dienstleister, etwa den Ausbau der Sozialraumorientierung, die Jugendlichen in ihrem täglichen Umfeld passgenaue Unterstützung bieten soll. Niedrigschwelligkeit ist dabei eines der Ziele, die der Landkreis Darmstadt-Dieburg auch durch seine Dezentralisierung erreichen will. Mit „LaDaDi vor Ort“ gibt es bereits Beratungen des Jugendamtes im Loop5 in Weiterstadt, an den Standorten der anderen Kfz-Zulassungsstellen sollen diese folgen.
„Die Aufgabenstellungen werden mehr, die Ressourcen sind aber nach wie vor knapp“, sagt Sozialdezernentin Christel Sprößler. „Wir sind aber stolz auf die Entwicklung, die unser Jugendamt genommen hat und wir werden weiterhin mit Nachdruck daran arbeiten, dass wir denen helfen können, die Hilfe brauchen: den Kindern und Jugendlichen.“ Deshalb wird das Jubiläum am Freitag, 22. November, mit einer Feierstunde im Landratsamt gewürdigt. 250 Mitarbeiter sind es heute, hinzu kommt ein Netz von freien Trägern. Deshalb sagt Sprößler: „Ich bin sehr zuversichtlich für die nächsten 100 Jahre.“