Presse-Archiv 2001

Großreinemachen auf kleinen Bahnhöfen

Sisyphus am Zug

11.12.2001

Darmstadt-Dieburg - "Die Leute haben einfach keine Manieren", stöhnt Stefan Philipp. "Lassen Zigarettenkippen, Zettel, Getränkedosen achtlos fallen, selbst wenn Abfalleimer da sind oder ein paar Meter weiter gerade jemand Dreck wegfegt." So viel Unverfrorenheit ärgert den Gärtnermeister, unter dessen Aufsicht seit 1998 Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger kleine Personenbahnhöfe im Landkreis und in der Stadt Darmstadt in Schuss halten. Den Verdruss überwiegt jedoch der zumindest vorübergehend sichtbare Erfolg der Verschönerungskur, gelegentlich auch ein paar anerkennende Worte und vor allem der nachhaltige Effekt für die eingesetzten Saubermänner: Die Hälfte der bisherigen Teilnehmer fand nach Abschluss des jeweils einjährigen Beschäftigungsprojekts eine feste Stelle oder begann eine Ausbildung. Deshalb startet das Programm "Attraktivere Bahnhöfe" jetzt in die vierte Runde. Sechs Sozialhilfeempfänger, darunter erstmals drei Frauen, im Alter zwischen 29 und 52 Jahren, klappern nach Auskunft von Landrat Alfred Jakoubek in den nächsten 18 Monaten regelmäßig insgesamt 26 Stationen ab, entfernen Unrat, kümmern sich um die Grünanlagen, reparieren kleine Defekte, streichen Wände - und werden dabei fit gemacht fürs Berufsleben. Die Maßnahme kostet insgesamt rund 700.000 Mark und läuft unter der Regie der Stabsstelle Beschäftigungsförderung des Landkreises. Mitfinanziers sind das Land Hessen und die Europäische Union, die Mittel aus dem "Hessischen Aktionsprogramm Regionale Arbeitsmarktpolitik" (HARA) beisteuern, die Stadt Darmstadt und der Rhein-Main- Verkehrsverbund. Die Bahn sorgt für Arbeitsmaterial und Sicherheitsschulungen, die gemeinnützige Wurzelwerk-Gesellschaft (Groß-Umstadt) für den reibungslosen Ablauf und persönliche Unterstützung. Außer dem Fachanleiter kümmert sich eine Sozialarbeiterin um die neue Gruppe, hilft bei "Papierkram" und privaten Problemen. Auch an den geregelten Tagesablauf und die Anforderungen muss sich mancher erst gewöhnen. Nur einer hat die Schule abgeschlossen, nur zwei eine Ausbildung absolviert, zwei waren noch nie berufstätig, die übrigen seit mehr als zwei Jahren arbeitslos und von der Sozialhilfe abhängig. Als "Bahnhofskosmetiker" erhalten die Frauen und Männer einen festen Lohn, der die bisher bezogene "Stütze" um mindestens 400 Mark übersteigt. Für jeden einzelnen wird ein Förderplan mit Zielen und Etappen zur Qualifikation aufgestellt.

Alle drei Monate schaut man sich den aktuellen Stand an und korrigiert oder verfolgt den eingeschlagenen Kurs weiter. So sollen die Teilnehmer eine solide Brücke Richtung ersten Arbeitsmarkt bekommen. Wenn nun auch noch die Bahnkunden ein bisschen mehr Rücksicht nähmen, gewienerte Kacheln, frisch gestrichene Wände und Fassaden von Schmierereien verschont blieben, nicht die ganze Umgebung als großer Mülleimer missbraucht würde, dann könnten die kleinen Bahnhöfe in der Region nach Meinung von Landrat Jakoubek wirklich schmucke Visitenkarten abgeben.

db

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