Presse-Archiv 2003
Sparpaket des Landes betrifft auch anscheinend nicht Betroffene
Operation mit heftigen Nachwehen
05.11.2003
Darmstadt-Dieburg - Weniger Geld, um Klassenzimmer zu renovieren, Vereine zu unterstützen, Feuerwehren auszurüsten, Pausenhöfe, Radwege und Straßen zu flicken- die "Operation sichere Zukunft" wird auch an Stellen weh tun, die auf den ersten Blick gar nicht betroffen sind. Das sagt Landrat Alfred Jakoubek voraus, nachdem Finanzminister Karlheinz Weimar offenbar unbeeindruckt von Protesten einen Landeshaushalt mit den angekündigten Kürzungsplänen für 2004 vorgelegt hat. "Was das Land streicht, geht zu Lasten anderer", warnt Jakoubek und spricht als Präsident des Hessischen Landkreistages auch für seine Amtskollegen. Aufgrund der Einschnitte werde künftig vielen Menschen frühe Hilfe versagt bleiben. Wo anfangs mit vergleichsweise geringen Mitteln noch eine Wende zu schaffen wäre, verfestigten sich Probleme. Für "Reparaturmaßnahmen" hätten dann die Kommunen aufzukommen.
Abgesehen von den Schicksalen der Betroffenen fehle dadurch das ohnehin knappe Geld an allen Ecken, müssten Leistungen gekürzt, Investitionen gestreckt werden. "Den Schaden haben am Ende alle Bürger", so Jakoubek. Wie stark die Sozialkürzungen des Landes die Sozialhilfeausgaben im Kreis in die Höhe treiben, lässt sich nach seinen Worten nur schwer seriös schätzen. Aufgrund von Erfahrungswerten haben er und die Erste Kreisbeigeordnete Celine Fries jedoch an vier Beispielen wahrscheinliche Folgen für die Jugendhilfe taxiert. Danach wirken sich Einsparungen des Landes in Höhe von 285.000 Euro allein auf diesem Sektor mit Mehrkosten von über zwei Millionen Euro für den Landkreis aus. "Und das ist noch sehr zurückhaltend gerechnet", so die Fachdezernentin.
Beispiel 1: Der Jugendberufshilfe sollen rund 51.000 Euro gestrichen werden. Die beiden Sozialarbeiter, deren Stellen von der Landesregierung abhängen, vermitteln im Landkreis pro Jahr rund 135 junge Menschen in einen Job, eine Ausbildung oder eine schulische Laufbahn. Bei ihren Klienten handelt es sich um Jungen und Mädchen mit ausgesprochen ungünstigen Startchancen, viele stammen aus desolaten Verhältnissen, sind ohne Halt und laufen ohne professionelle Unterstützung Gefahr, auf die schiefe Bahn zu geraten. Gäbe es die Streetworker nicht und nur fünfzehn dieser Jugendlichen würden vom Jugendamt in einem Heim mit Ausbildungsmöglichkeiten untergebracht, kostete das pro Kopf und Tag 160 Euro, insgesamt also 867.000 Euro - eine teure Sparmaßnahme.
Beispiel 2: Dem Frauenhaus in Münster sollen 120.000 Euro gestrichen werden. Es ist dadurch in seiner Existenz bedroht und wird zumindest nicht mehr im bisherigen Umfang als Zuflucht für gedemütigte, misshandelte Frauen und Kinder zur Verfügung stehen. Soll man den Opfern zumuten, sich weiter der häuslichen Gewalt auszusetzen, fragt Jakoubek. Die Betroffenen habe gesetzlichen Anspruch auf Hilfe. Würde das Jugendamt nur in fünf Fällen die Unterbringung in einem Mutter Kind-Heim veranlassen und in drei Fällen die Kinder in Obhut nehmen, kostete das ingesamt mehr als eine halbe Million Euro - eine teure Sparmaßnahme.
Beispiel 3: Der Schuldnerberatung sollen rund 74.000 Euro gestrichen werden. Nach der Erfahrung führt materielle Not vielfach zum Abdriften in die Sozialhilfe und zu familiären Konflikten mit der Folge, dass Kinder vernachlässigt, schlecht versorgt, kaum beaufsichtigt werden. Gibt es mangels professioneller Hilfe keinen Ausweg aus dem Schuldenturm und die Situation spitzt sich zu, ist oft das Jugendamt gefordert. Würden nur zwanzig Familien von der so genannten sozialpädagogischen Familienhilfe betreut und drei Kinder in ein Heim gegeben, kostete das rund 400.000 Euro im Jahr - eine teure Sparmaßnahme.
Beispiel 4: Der Erziehungsberatung des Kreises sollen rund 40.000 Euro gestrichen werden; das entspricht einer Personalstelle. Eine Fachkraft kümmert sich um etwa 170 Klienten im Jahr, hilft über Krisen hinweg, kittet gestörte Beziehungsgeflechte, "repariert" kaputte Familien. Zu etwa zwanzig Prozent handelt es sich dabei um hochproblematische Fälle. Würden die Erziehungsberatungsstellen personell ausgedünnt, gäbe es längere Wartezeiten, weniger Prävention und häufiger die Notwendigkeit, kostenintensive Maßnahmen zu ergreifen. Würden nur zehn Prozent der Familien, die künftig mangels Fachkräften ohne Beratung bleiben, Erziehungshilfe in Anspruch nehmen und fünf betroffene Kinder stationär untergebracht werden, kostete das den Kreis mehr als 300.000 Euro - eine teure Sparmaßnahme.
Jakoubek und Fries bedauern, dass Ministerpräsident Koch und sein Kabinett beim Streichen die gesellschaftlichen Folgekosten kaum beachten. Die "Operation sichere Zukunft" sei ein Eingriff mit erheblichen Risiken und Nebenwirkungen.
db