Presse-Archiv 2008

Fachleute helfen beim finanziellen Fiasko - 20 Jahre Schuldnerberatung

Private Pleite kann jeden treffen

20.10.2008

Darmstadt-Dieburg - Seit zwanzig Jahren unterhält der Landkreis eine Schuldnerberatung. Früher als andernorts erkannte man hier eine Besorgnis erregende Entwicklung, doch mit welcher Dynamik sich das Problem der privaten Überschuldung ausbreiten und bis in die Mitte der Gesellschaft fressen würde, dass sich damit sogar im Fernsehen einmal Quote machen ließe, das hatten wohl selbst Pessimisten nicht erwartet. “Heute ist die Beratungsstelle ein unverzichtbarer Knotenpunkt im sozialen Netz”, betonen Landrat Alfred Jakoubek und Sozialdezernent Klaus Peter Schellhaas. Das lässt sich der Kreis einiges kosten: gut 206.000 Euro im Jahr.

Überdeutlich veranschaulicht die Statistik den negativen Trend. Waren in den Anfängen rund 400 Fälle jährlich zu betreuen, wurden 1999 bereits knapp 750 Beratungen registriert. Diese Zahl verdoppelte sich auf 1500 im Jahr 2007, und im laufenden Jahr verzeichnet die Schuldnerberatungsstelle schon wieder ein Nachfrageplus von bisher zwölf  Prozent . Ebenso vielen Männern wie Frauen geraten die Finanzen aus dem Ruder. Von 18 bis 80 ist praktisch jedes Alter vertreten, allerdings steigt der Anteil der “Twens” und der um die 50-Jährigen überproportional stark. Jeder dritte Klient lebt ganz oder teilweise von Arbeitslosengeld II, jeder vierte stammt aus einer Migrantenfamilie. Die Verbindlichkeiten bewegen sich meist zwischen fünfzig- und sechzigtausend Euro, wobei die Bandbreite von rund 5000 Euro bis über eine Million reicht. Vor der privaten Pleite ist offenbar niemand gefeit: den Hilfsarbeiter trifft es ebenso wie den Professor, den gescheiterten Unternehmer oder den Ex-Manager. Den Abwärtsstrudel setzt am häufigsten Arbeitslosigkeit (30 Prozent) in Gang, weitere wesentliche Ursachen sind Scheidung (15 %), unangemessenes Konsumverhalten (14 %) und Krankheit (7 %).

Obwohl das Land seit Jahren keinen Cent Zuschuss mehr beisteuert, hat der Kreis nach Auskunft von Landrat Jakoubek die Schuldnerberatung wegen des wachsenden Bedarfs personell ständig ausgebaut. Insgesamt sieben Personen bilden die Eingreiftruppe gegen tiefrote Zahlen: Neben Wolfgang Keller, dem Leiter der Beratungsstelle, zwei haupt- und zwei ehrenamtliche Fachkräfte, eine Sekretärin sowie - in besonderer Mission - der frühere Babenhäuser Bürgermeister Norbert Schäfer. Er besucht Schulen, um der jüngeren Generation einen vernünftigen Umgang mit Geld nahe zu bringen.

Wie die Fachleute im Kreishaus Dieburg beobachten, beeinflussen die einschlägigen TV-Shows durchaus das Verhalten vieler Ratsuchender. Wären Betroffene früher am liebsten mit einer Tarnkappe zum Termin geschlichen, wird heute zunehmend offen nach Hilfe gefragt. “Schulden sind kein Tabuthema mehr, und es ist keine Schande, sich fachliches Know how zu holen”, sagt Wolfgang Keller. Wer allerdings mit der Haltung kommt: “Nun macht mal!”, und erwartet, zu jedem Termin bei Banken und Gläubigern begleitet zu werden, hat sich verrechnet. “Das ist schon allein zeitlich gar nicht möglich.” Stärker als in der Fernsehwelt wird im “wirklichen Leben” von den Schuldnern verlangt, dass sie aktiv mitarbeiten. Im Gegenzug erhalten sie jeden individuell notwendigen Beistand. Mit dieser klaren Ansage lässt sich schnell herausfiltern, ob es jemand wirklich ernst meint. Beim Erstkontakt - in der Regel am Telefon - wird eingehend die aktuelle Situation abgefragt und das weitere Verfahren erklärt. Folglich weiß jeder, was auf ihn zukommt. Beispielsweise müssen zunächst in einem Aufnahmebogen alle Einnahmen, Ausgaben und Verbindlichkeiten eigenständig aufgelistet werden. Dem Berater einfach Wäschekorb oder Plastiktüten voll Rechnungen zum Sortieren hinstellen - so bequem kann man es sich nicht machen. Sind die Unterlagen komplett, gibt es kurzfristig innerhalb von maximal vier Wochen einen Termin. Der Berater nimmt sich dafür viel Zeit, um die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse zu ergründen.

Ganzheitliche Lebenshilfe tut in vielen Fällen Not. Nicht allein die Miesen auf dem Konto machen den Menschen zu schaffen. Die Belastung schlägt sich oft auch auf die körperliche und seelische Gesundheit nieder, Depressionen, sogar Selbstmordgedanken sind nicht selten, es häuft sich Streit in den Familien, Kinder leiden in ihrer Entwicklung, soziale Beziehungen brechen ab.  Nach Erste-Hilfe-Maßnahmen bei akuten Krisen, etwa wenn der Strom abgedreht oder die Wohnung geräumt zu werden droht, hat dann häufig erst einmal die psychosoziale Stabilisierung Vorrang, ehe es an die Schuldenregulierung geht. Mit gutem Grund ist die Schuldnerberatung beim Sozialamt angesiedelt. So lässt sich alle mögliche Unterstützung auf dem kurzen Dienstweg organisieren. Mit zahlreichen Hinweisen - vom Führen eines Haushaltsbuchs über Versicherungs-Check, Energiespar- und Einkaufstipps und der Frage, ob Rauchen, das  Auto, drei Hunde und fünf Handys unbedingt sein müssen - zeigen die Berater, wie sich Ausgaben reduzieren lassen, und entwickeln Perspektiven, um die Einnahmeseite zu verbessern. Bei Verhandlungen mit Gläubigern geben sie taktische Tipps und Formulierungshilfe für den Schriftverkehr. Die Klienten werden dabei eng mit eingebunden. So gewinnen sie Kenntnisse und übernehmen Verantwortung - ganz im Sinne einer nachhaltigen Hilfe zur Selbsthilfe. Je nach Lage der Dinge kann die Betreuung Monate, mitunter auch Jahre dauern. Gläubiger sind nach Auskunft von Wolfgang Keller heute eher geneigt, sich auf eine außergerichtliche Schuldenregulierung einzulassen als vor der Einführung des Insolvenzrechts. So können sie wenigstens auf die Rückzahlung eines Teils ihrer Forderungen hoffen. Wird schließlich doch Privatinsolvenz beantragt, sind zuvor alle Versuche gescheitert, den Gläubigern ein akzeptables Regulierungsangebot zu unterbreiten. Besteht demnach keine realistische Chance, dass die Betroffenen ohne Schuldenerlass jemals wieder auf einen grünen Zweig kommen, empfehlen Keller und Co. den Gang zum Insolvenzgericht als Ultima ratio.  Die Schuldnerberatung des Kreises ist autorisiert, diesen aufwendigen und komplizierten Schritt einzuleiten. Im vergangenen Jahr wurden 45 Verfahren initiiert. Für die Betroffenen beginnt damit eine harte Zeit von sechs Jahren “Wohlverhalten” mit Entbehrungen, Auflagen und Kontrolle - und mit der Aussicht auf einen Neubeginn bei Null.

Kontakt: Die für Betroffene kostenfreie Schuldnerberatung des Landkreises im Kreishaus Dieburg ist telefonisch erreichbar unter der Nummer 06071/8811216. Als einzige Kommune im Kreis bietet zudem die Stadt Babenhausen ihren Einwohnern eine eigene Schuldnerberatung an.

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